Es töten ihre Blicke, doch zum Leben erweckt ihr Wort,
als sei sie Jesus gleich.
Wie Thoratafeln glänzen ihre Schenkel,
ich lese und studiere sie wie Moses.
Christliche Bischöfin, doch ohne Schmuck,
verbreitet sie das Strahlen des Gesetzes.
Einsam und ohne Freunde nahm sie sich die entrückte Klause.
Sie übertrifft die Weisen unseres Glaubens,
die schriftgelehrten Juden und Prälaten.
Als ihr Kamel zur Reise drängte, rief ich:
Ihr Treiber! Niemals nehmt sie mit euch fort!
Du Schönheit! Anmut! Gebt mir Luft zum Atem!
Sie kreist umher in meinem Herzen Stunde um Stunde,
zur Liebe und zur Qual, und küsste mein ganzes Wesen.
Das wunderbarste sind verschleierte Gazellen;
es locken rotlackierte Finger, schöne Augen.
Ihr Weidengrund ist tief im Innern meiner Brust;
wie wundervoll: ein Garten zwischen Feuerflammen!
Mein Herz hat angenommen jegliche Gestalt:
für die Gazellen Weideplatz, für Mönche Kloster,
den Götzen Tempelbau, dem Pilgerkreis die Ka`ba, Schriftrollen für die Thora, das heilige Buch dem Koran. Dies ist der Ort: die Biegung in den Felsen; gib die Kamele frei, wir sind am Ziel!
Mein Glaube ist die Liebe:
Wo die Karawane auch hinziehen mag, ist Liebe meine Religion.
Genießt!- wie die Mädchen mit den vollen Brüsten,
und weidet – wie die flüchtigen Gazellen,
im Garten, wo die Fliegen tönend schwirren und Vögel freudig ihre Antwort flöten.
So lieblich der Ort, so zart sein Hauch!
Aus Adams Zeiten erzählt der Wein uns seine Geschichte vom Paradiesgarten.
Der süße Wein entfließt dem Mund der Schönen,
wie von den Mädchen Moschus zu uns strömt.
So lieblich der Ort, so zart sein Hauch!
Ibn al Arabi
Ibn al Arabi (1165 Murcia in al-Andalus – 1240 Damaskus in Syrien) ist der berühmteste Dichter und Philosoph der arabischen Welt. Für ihn war Liebe und Sexualität ein Gottesdienst und er sah Gott in allen Formen des Lebendigen (die Lehre von der „Einheit des Seins“- wahdat al-wudschūd), wofür er oft kritisiert und verboten wurde. Sein bekanntestes Gedicht „Dolmetscher der Sehnsüchte“ (der Text „Karawane der Liebe“ ist ein Ausschnitt davon) spricht über die vielen Erscheinungsformen des Göttlichen. Er widmete es seiner verehrten jungen Geliebten Nizami aus Mekka.
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