Über den ko-kreativen musikalischen Prozess beim Symposium Convivencia

Mitten in der Arbeit an unserem neuen Lied, frage ich mich: Ist das noch interkulturell („jedem das seine“) oder schon transkulturell („die gemeinsame Vielfalt“)? Auf jeden Fall fühlte es sich transpersonal an, also schmerzhaft, erweiternd und schön, wie wir 4 Musiker da miteinander ringen um ein Lied. Es war ein Akt der persönlichen Grenzüberschreitung, denn wir bekamen dabei die Grenzen unserer Egos, unserer Kulturen, unseres Können, unserer Kommunikation zu spüren.

Es handelte sich also um ko-kreatives Musikschaffen. Um transzendierende Musik. So intensiv hatten wir noch nicht zusammen gearbeitet.

Alles fing an mit einem Gedicht von Maulana Rumi, dem berühmten Sufidichter, das unser kurdischer Sänger Esmail eines abends am Lagerfeuer gesungen hatte. Obwohl er es schlicht zur Gitarre gesungen hatte, trug es mich davon und ich hörte darin einen versteckten Trancerhythmus, der uns zu anderen Ufern bringen könnte.

Dann kam die gemeinsame Symposiumswoche und wir würden endlich Zeit haben, an dem Lied zu arbeiten. Während ich auf der Suche nach schweren Bassgrooves und sphärischen Klängen das Lied vorantreibe wird Esmail immer blasser und kränker. Er hat Durchfall. Doch es ist mehr dahinter. Am nächsten Tag kommt er in der Pause zu mir und sagt: „ Ich habe eine wichtige Sache…sehr wichtige Sache. Wir dürfen das Stück nicht spielen!“ Ich erkenne sofort den Ernst seiner Aussage. Sie ist ultimativ.

„Aber warum dürfen wir das Sück nicht spielen?“

„Es ist von Hosain Alizade! Mohamad Reza Shajaryan singt es, er ist der größte Sänger im Iran, der beste von der Welt! Alle meine Freunde lachen mich aus, wenn wir es so spielen. Wir müssen es so spielen wie er. Aber wir können es nicht so spielen wie er. Er ist ein sehr großer Mann!“

Es geht also um ein unantastbares Heiligtum.

Offensichtlich stößt hier mein Hippieverständnis vom free flow und anything goes auf ein traditionelles Musikverständnis. Der Schüler steht unter dem Meister. Und er strebt danach ihm ebenbürtig zu sein oder ihn irgendwann zu übertreffen. Das Urteil darüber trifft der Meister. Seine Interpretation darf nicht verändert werden. Erst wenn der Schüler dieses Niveau erreicht hat, darf er sich – mit seinem Einverständnis – zeigen. Ein schlechterer Musiker würde auch nie gemeinsam mit einem besseren Musiker zusammen improvisieren. Er sitzt daneben und hört zu.

Jetzt höre ich zu und überlege.

Dann frage ich Esmail: „Und wenn du selbst ein Stück schreibst? Können wir dann damit arbeiten, können wir es verändern?“

Esmails Gesichtszüge klaren auf: „Ja, klar!“

„Und? Schreibst du eines?“

„Ja,…heute Nacht!“

Am nächsten Morgen ein strahlender, müder Esmail.

Er hat ein wunderschönes Stück geschrieben. Zu einem der vielen Rumigedichte, die er auswendig kennt. Doch es klingt anders, als ich es mir vorgestellt habe. Er spielt es mir auf der Gitarre vor – und ich vermisse darin den groove, die Mystik. Es klingt eben wie Esmail zur Gitarre…

Aber er hatte ja versprochen, wir dürfen es verändern. Wo sind da die Grenzen? Die Grenzen der verschiedenen Kulturen? Der Respekt vor seiner Person und seiner Komposition? Die Grenzen der Möglichkeiten des Liedes? Meiner eigenen Fähigkeit, meine innere Musik zu kommunizieren?

Wir beginnen miteinander zu arbeiten. Wolfgang und Dietmar nehmen die Harmonien des Stückes auseinander, basteln an Akkorden und Taktmaßen. Esmail sitzt daneben. Ich auch. Wir probieren es zu spielen…es klingt uninspiriert. Ich suche die Stimmung, die anderen die Form, Esmail sucht sein Lied. Wo ist die Melodie geblieben? Ich sage immer wieder. „Wo ist der Spirit, so bleiben wir Gefangene des Liedes! Die Musik muss sich ganz weit öffnen, einfach werden, eine stille Trance entfalten…“. Wir geraten aneinander, Esmail wird still und geht rauchen.

Das große (Menschheits-) Rätsel: Wieviele Kulturen treffen hier aufeinander? Wir sprechen Deutsch, werden immer schneller, Ismael versteht nichts mehr. Wolfgang, Dietmar und ich verstehen uns aber auch nicht. Jeder Einzelne ist eine eigene Welt. Die westliche Musiktheorie ist eine Welt. Die traditionelle persische auch. Meine Welt ist musikalische Naivität, ich höre nur einen fernen Klang. Welche Sprache kann uns verbinden? Jeder will gehört werden und spricht gleichzeitig auf den anderen ein. Ich frage mich: Wie spreche ich, in welchem Moment? Wer fühlt sich gerade zurückgesetzt? Spreche ich aus meinem Ego oder bin ich Träger der Verbindung?

Zaghaft beginnen wir zu spielen. Ist das hier schon Musik oder noch Streit?

Doch wir arbeiten jetzt miteinander, knietief stehen wir in dem Lied, wir schuften wie die Bergarbeiter, um seinen Schatz zu heben. Und so langsam kehrt die Freude zurück, ein Leuchten am Horizont. Der Groove beginnt zu tragen, die Nerven sich zu beruhigen. Unsere Kulturen schwappen hin und her über ihre Grenzen, unsere Egos surfen auf den Wellen einem neuen Ufer entgegen.

Und siehe da: Das Lied trägt. Wir sind glücklich. Esmail ist glücklich. Rumi hoffentlich auch.

Der neue sound der Freiheit.

Das gelobte Land ist immer Neuland.

Doch wir erkennen es wieder, wir kennen es aus unserer Sehnsucht.

Nur gemeinsam können wir es betreten, sonst bleibt es verschlossen.

Seine Zutaten sind uralt.

Gewürze von überall her. Dazu das Salz des Menschseins.

Die unsichtbaren Tore öffnen sich, wir tasten uns voran.

Unsere Ohren offen wie zarte Blumen. Unsere Hände wie Fühler ausgestreckt.

Damit wir uns bei der Suche nach Heimat nicht verletzen.

Damit wir alle dort Heimat finden.

Man ghohame ghamram/ Sklave des Mondes (Text: Rumi, Musik: Esmail Saedi)

Ich bin ein Sklave des Mondes.
So sprich zu mir von nichts anderem als vom Mond.
Sprich zu mir von nichts anderem als von seinem Schein und seiner Süße.

Spreche nicht von Leid, sondern nur von Gaben.
Und wenn du von diesen nichts weißt, so sage nichts.

Letzte Nacht wurde ich wahnsinnig.
Die Liebe kam zu mir und sagte: Ich bin hier!
Schreie nicht! Wüte nicht! Sage nichts.

Ich sprach: Oh Liebe, dort ist etwas, das ich fürchte!
– Dort ist nichts! Sage nichts.

Ich sprach: Ist dieses Gesicht das Gesicht eines Engels oder eines Menschen?
– Es ist weder das Gesicht eines Engels noch das Gesicht eines Menschen.
Es ist das Gesicht von etwas anderem… doch sage nichts.